Sehr geehrte Frau Schopper,
in den letzten beiden Jahren ist die pädagogische Arbeit in den Kitas zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Dies ist sicherlich der aktuellen Lage, sei es dem Fachkräftemangel oder auch der derzeitigen Diskussion um Gewalt in Kitas geschuldet. Als Verband Kita-Fachkräfte Baden-Württemberg verfolgen wir die Entwicklung interessiert und bringen kontinuierlich unsere Praxisexpertise ein.
Seit unserer Gründung im Januar 2021 sind wir ein stetig wachsender und aktiver, ehrenamtlich geführter Verband.
Gemeinsam mit Eltern, Trägern und Interessierten machen wir uns auf den Weg, um die Bedingungen in den Kitas Baden-Württembergs bedeutend zu verbessern. Wir wollen, dass Kitas zu einem Ort werden an welchem Kinder, Eltern und Pädagogen gemeinsam wachsen, leben und sich weiterentwickeln können.
Als Berufsverband haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, kontinuierlich auf die Themen und Probleme in den Kitas in Baden-Württemberg aufmerksam zu machen. In diesem Zuge sind bereits gut Kontakte zu Politiker*innen entstanden, doch wünschen wir uns, unsere Praxisexpertise in der politischen Diskussion wie beispielsweise bei den „Runden Tischen“ im Kultusministerium bereits vor Entscheidungen mehr einbringen zu können.
Der Idee eines Kita-Gipfels stehen wir aufgeschlossen gegenüber und würden als Vertretung Fachpraxis bei einem solchen einbringen. Die Verantwortung zur Initiierung eines Kita-Gipfels sehen wir allerdings auf politischer Ebene.
Wir begrüßen den aktuellen Versuch, durch eine Werbekampagne auf unseren Beruf aufmerksam zu machen. Gleichzeitig stellen wir fest, dass scheinbar im Vorfeld wenig mit pädagogischen Fachkräften darüber gesprochen wurde, wie sich deren Berufsalltag gestaltet, und was ihnen bei einer solchen Kampagne wichtig gewesen wäre. Als Berufsverband stellt sich uns weniger die Frage der Personalgewinnung, denn die Ausbildungs- und Studienwege sind vielfältiger geworden und die Kapazitäten wurden massiv ausgebaut. Vielmehr stellt sich uns die Frage, wie das gewonnene Personal gehalten werden oder nach einer Arbeitsunterbrechung wiedergewonnen werden kann. Gerade in den Kitas finden wir eine besondere Form des Fachkräftemangels vor, denn hier liegen Problem und Teillösung der deutschlandweiten Schwierigkeiten direkt beieinander. Ohne eine qualitativ hochwertige Bildung in Kitas halten wir viel Potenzial, gerade von Frauen, dem Arbeitsmarkt fern. Somit muss nicht nur massiv in den Ausbau von Kitaplätzen investiert werden, sondern insbesondere in die Ausstattung, den Personalschlüssel und die Personalbindung in Kitas. Hierzu benötigt es mehr als eine Werbekampagne für den Beruf. Es braucht echte Verbesserung der Arbeits- und Rahmenbedingungen. Dies könnte man erreichen, indem in jeder Kita Stellen geschaffen werden für Hauswirtschaftskräfte und indem jede Kita anteilig an ihren Bedarf eine Integrationsfachkraft beschäftigen kann. Außerdem durch die Weiterführung, Verstetigung und den Ausbau der Sprach-Kitas. Dies sind nur einige der erfahrungsbasierenden Ideen aus unserer Arbeitspraxis.
Sicher ist aber, dass nichts gewonnen ist, solange pädagogische Fachkräfte desillusioniert aus dem Beruf aussteigen, oft schon nach wenigen Berufsjahren. Diese Werbekampagne zeigt den Idealzustand in einer Kita, spiegelt aber nicht die Realität, vor allem die Realität in Kitas, in denen der Fachkräftemangel bereits massiv angekommen ist. Doch wie werbewirksam wäre diese Realität?
Laut der aktuellen Bertelsmann Studie 2022 sind 48,4% der Kitakinder in Baden-Württemberg nicht kindgerecht betreut. Im gesetzlichen Auftrag der Kitas SGB VIII Abschnitt 3 § 22-26 rangieren Bildung, Erziehung und Betreuung gleichrangig. Niemals darf das Kindeswohl wegen Aufsichtspflichtverletzungen durch zu große Gruppen und mangelndes Personal aufs Spiel gesetzt werden. Aus diesem täglichen Spagat zwischen Einhaltung der Aufsichtspflicht und Wahrung der Kinderrechte ergeben sich immer wieder Situationen, die das pädagogische Fachpersonal an ihre Belastungsgrenzen und darüber hinausbringen. Die daraus resultierenden Grenzverletzungen in Kitas nehmen zu und zeigen uns, dass mehr als eine Werbekampagne zur Personalgewinnung nötig ist.
Es gibt in vielen unserer Kitas gut erarbeitete Schutzkonzepte, um Kinder vor seelischer und körperlicher Gewalt zu schützen. Die Kitas, in denen es noch keines gibt, haben jüngst den Arbeitsauftrag bekommen, einrichtungsbezogene Schutzkonzepte verpflichtend zu erstellen.
Dass sich die Gewalt in deutschen Kitas häuft, ist ein deutliches Alarmsignal und sehr besorgniserregend. Bekanntlich hilft das beste Konzept nichts, wenn sich weiterhin an den Rahmen- und Arbeitsbedingungen nichts ändert.
Die Gruppen sind zu groß, die Räumlichkeiten vielerorts veraltet und zu klein, es mangelt an Personal, und es bleibt zu wenig Zeit für die individuelle Zuwendung zum einzelnen Kind. In Baden-Württemberg wird mit einem veralteten Personalschlüssel gerechnet, der es nicht zulässt, allen Kindern gerecht zu werden. Der zunehmend hohe Aufwand, sei es für individuelle Fördermaßnahmen, die bedürfnisorientierte Begleitung von Eltern, oder den bürokratischen Aufwand und überbordende Dokumentationen, stellt die Kitas zusätzlich vor große Herausforderungen. Letztendlich geht die Zeit, die Fachkräfte dafür aufwenden müssen, immer von der Zeit ab, die für die Bildung und Erziehung der Kinder wichtig wäre. Was das für die spätere Schullaufbahn bedeuten kann, zeigt sich unter anderem in der ansteigenden Zahl der Schulabbrecher. Um dem gegenzusteuern, ist es wichtig, in qualitativ bessere Kitas und somit in frühkindliche Bildung zu investieren. Nur dann können Kinder gut auf die Schule vorbereitet und beim Erwerb von Lebenskompetenzen begleitet werden. Deshalb benötigen wir deutschlandweit einen kindgerechten, den Erfordernissen der Praxis angepassten Personalschlüssel in den Einrichtungen und echte Arbeitsentlastungspakete für pädagogische Fachkräfte, damit diese das Berufsfeld nicht verlassen.
Ihrer Aussage, dass wir eigentliche hohe Standards brauchen, stimmen wir als Verband für Kitafachkräfte vollumfänglich zu. Diese Standards sehen wir aber momentan stark unter Beschuss und die ersten “Kompromisse” wurden bereits beschlossen. Der Trend in den Baden-Württembergischen Kitas ist bereits in der Abwärtsspirale.
Was wir brauchen ist Aufschwung, ein völlig neues Denken und die Möglichkeit der kontinuierlichen Beteiligung der Betroffenen, der Kinder und pädagogischen Fachkräfte, um die Lebenswelt der Kinder zu verbessern und qualitativ hochwertige Bildung anzubieten. Das kann nur gelingen, wenn Politik, Gesellschaft und pädagogische Fachkräfte Hand in Hand arbeiten, um die aktuellen Probleme in den Griff zu bekommen.
Sehr gerne würden wir bei einem Online-Meeting mit Ihnen unsere Praxisexpertise einbringen, um gemeinsam an tragfähigen Lösungen zu arbeiten.
Mit freundlichen Grüßen im Namen des Vorstands
Anja Braekow