Offener Brief zum Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes Mannheim (13.12.2022)

Stellungnahme zum Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Mannheim 

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

mit dem Beschluss des Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg vom 23. November 2022 im Einzelfall eine zeitlich begrenzte Ausnahmegenehmigung zur Überbelegung einer Kita zu erteilen, erreicht die Diskussion zur Betreuung und Bildung in den sowieso schon sehr angeschlagenen Kitas eine neue Dimension.

Diese Entscheidung ist für die pädagogische Praxis fatal und setzt ein völlig falsches Zeichen: Ein Kind mehr im Einzelfall ist doch kein Problem?! Jedes einzelne Kind mehr in ohnehin schon

überfüllten Gruppen mit zu wenigen Fachkräften stellt sehr wohl ein Problem dar, dies zeichnet sich im Alltag bereits jetzt ab. Der Fokus bei größerer Gruppenstärke liegt auf satt und sauber, Bildung und Erziehung stehen dann hinten an. Solche juristischen Entscheidungen lassen in der Praxis die Waagschale zu Gunsten der Betreuung kippen.

Der Dreiklang zwischen Betreuung, Bildung und Erziehung muss wieder ausgewogen werden.

Eine qualitativ hochwertige frühkindliche Bildung legt den Grundstein für die weitere Entwicklung. Um wirklich Chancengleichheit zu erreichen muss es endlich möglich werden, dass in Kitas die frühkindliche Bildungsarbeit wieder zuverlässig stattfinden kann.

Mit diesem Beschluss steht der Rechtsanspruch über dem Kindeswohl. Gerade in der heutigen Zeit aber stellen Experten fest, dass immer mehr Kinder unter Lärm und Reizüberflutung leiden. Eine generelle oder auch temporäre Erweiterung der Gruppenstärke in bestehenden, teils veralteten und zu engen Räumlichkeiten, erhöht diese Stressoren bei Kindern und pädagogischen Fachkräften und wirkt sich unmittelbar gesundheitsschädlich aus. Zudem benötigen immer mehr Kinder eine individuelle und intensive Begleitung und dies nicht allein im Bereich der Sprachförderung oder der Vermittlung von Deutschkenntnissen. Dadurch wird die ohnehin dünne Personaldecke bereits stark strapaziert. Jedes Kind mehr bedeutet im Umkehrschluss für jedes Kind weniger Zeit und damit einhergehend eine größere Gefährdung, da die Aufsichtspflicht und die Umsetzung des Gewaltschutzkonzepts nicht mehr sicher gewährleistet werden können. Elementare Kinderrechte wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit und das Recht auf Bildung können bereits unter den aktuell bestehenden Rahmenbedingungen nicht realisiert werden und sind bald unerreichbar.

Bildungsdokumentationen, Elterngespräche, Portfolios, Projektarbeit und zahlreiche alltägliche Aufgaben mehr sind wichtig und zeitintensiv. Diese können nicht mehr erfüllt werden, weil den Fachkräften die Zeit fehlt, sich damit auseinanderzusetzen. Verfügungszeiten werden häufig gestrichen, um die Betreuungszeiten nicht einschränken zu müssen.

​Die Auswirkungen spüren wir seit geraumer Zeit: immer mehr Fachkräfte kehren den Kitas den Rücken zu oder beginnen erst gar nicht im Kita-Bereich weil ihr Anspruch an qualitativ hochwertige Arbeit mit der Realität nicht in Einklang zu bringen ist.

Diese Diskrepanz führt zu emotionalem Stress, welcher wiederum einen hohen Krankenstand hervorruft. Zudem ist der Beruf für junge Menschen aus verschiedenen Gründen nicht mehr attraktiv. Wir befürworten die Idee Quereinsteiger *innen zu gewinnen. Wenn die Qualifizierung hier auf gleichem Niveau mit den Inhalten aus der regulären Ausbildung stattfindet, kann dies eine Bereicherung für die Arbeit in den Kitas sein.

Wir haben vollstes Verständnis für die Not berufstätiger Eltern.

Der Fokus der Betreuung verschiebt sich immer weiter auf die Einrichtungen, da sich Strukturen wandeln und Betreuungsmöglichkeiten innerhalb der Familien und Sozialgefüge wegfallen.

Der Druck der Arbeitnehmer*innen ist enorm. Hier ist dringend Handlungsbedarf: Arbeitgeber*innen und freie Wirtschaft müssen mit in die Verantwortung genommen werden. Gemeinsam muss über neue Arbeitszeitmodelle, Formen der Kinderbetreuung sowie deren Finanzierung diskutiert und Lösungen gefunden werden.

Die Kommunen stecken in einem Dilemma, da sie permanent den Spagat zwischen Gesundheitsschutz des Personals sowie Einhaltung von Vorgaben zum Kindesschutz einerseits und dem Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz andererseits leisten müssen. Der nun durch den Verwaltungsgerichtshof gefällte Beschluss zeigt auf, in welche Richtung die Kommunen angehalten sind zu handeln und er zeigt klar auf in welchem Rahmen die Landes- und Bundespolitik angehalten ist nach zu justieren, damit Bildung, Erziehung und Betreuung wieder gleichberechtigt in der Waagschale liegen.

Ein „weiter so“ kann es unter diesen Umständen nicht geben. Realität und geltendes Recht müssen in Einklang gebracht werden.

Mit freundlichen Grüßen

Anja Braekow, 1. Vorsitzende

Anja Halder, 2. Vorsitzende

 

Zum weiterlesen haben wir hier den Link vom Spiegel eingeführt. In unseren Augen eine fatale Entscheidung.

https://www.spiegel.de/panorama/bildung/verwaltungsgerichtshof-mannheim-eltern-haben-anspruch-auf-kita-platz-auch-bei-personalmangel-a-a10f4a95-3e10-40ae-b90a-f13acaef7fd1?fbclid=IwAR0jzr8mDADgA-DTqNvnOtBSO7nuBEZ5kcfy7ZSBHXx7l40ftWm1GX42kqs

Veröffentlicht in Aktuelles.

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